Bode Miller - Der Freiheitskämpfer aus Franconia

Veröffentlicht auf von Michael Eder




   Tamarack liegt in den White Mountains, einer urwüchsigen, schroffen Gegend in New Hampshire, in der die Pick-ups das halbe Jahr mit montiertem Schneepflug unterwegs sind. Bode Miller ist hier am 12. Oktober 1977 in der Tamarack Lodge geboren, einem Holzhaus, das seine Eltern im Wald, einen Kilometer entfernt von der Straße nach Franconia, gezimmert hatten. Woody, der Vater, hatte sein Medizinstudium abgebrochen und sich für eine spirituelle, politisch-ökologische Lebensform im Hippie-Stil entschieden. „Wir taten damals alles“, sagt er, „um der Notwendigkeit zu entgehen, Geld zu verdienen.“

   Woody und seine Familie lebten abseits der Straße im Wald, ohne Strom- und Wasseranschluss. Sie schlugen Holz, mit dem sie kochten und den Ofen feuerten, bauten Gemüse an, produzierten Sirup aus Zuckerahorn – das Leben selbst, sagt Woody, sei damals Arbeit gewesen. Für Bode und seine drei Geschwister bedeutete das Leben in Tamarack eine abenteuerliche Kindheit. „Ich habe so viel Zeit in der Natur verbracht wie ein Durchschnittsamerikaner vor 300 Jahren“, sagt er. Von klein auf streiften die Kinder durch die Wälder, lernten sich orientieren, klettern, laufen, schwimmen, sich bewegen. „Bis er zehn war“, sagt Mutter Jo über Bode, „hat er entweder Skischuhe angehabt oder war barfuß unterwegs.“ Schule? Jo hat die Kinder hin und wieder unterrichtet, ein Klassenzimmer haben sie lange Zeit nicht von innen gesehen.

   Das also ist die Geschichte von Bode Millers Kindheit – ein oft erzähltes Klischee. „Ich werde“, sagt Miller, „gern als Wilder dargestellt, der sich in die moderne Welt verirrt hat. Das ist weder nett noch fair.“ Es ist nämlich nur die halbe Wahrheit, denn genau wie heute lebten die Millers damals zwar im Wald, aber nicht isoliert. Die Kinder aus dem Dorf kamen gern zum Spielen, nur übernachten durften nicht alle. „Manchen Eltern“, sagt Bode Miller, „roch es bei uns doch ein bisschen sehr nach Freiheit.“

Wer sich heute nach Franconia verirrt, wird feststellen, dass sich dort nicht viel verändert hat. Die Menschen treffen sich wie seit Jahrzehnten im einzigen Lebensmittelladen im Ort, dort hängen die Neuigkeiten und Termine am Schwarzen Brett, und noch immer ist alles so unaufgeregt wie früher. Dass Bode Miller mittlerweile der beste Skifahrer der Welt ist, ist hier kein Grund zur Aufregung, das war eh klar, denken die Leute, der Junge ist schließlich schon mit fünf gefahren wie der Blitz, und das einzige Plakat mit der Aufschrift „We are proud of Bode Miller“, das an der Straße hängt, ehrt nicht nur den erfolgreichen Sohn des Ortes, sondern kontrastiert auch hübsch zu dem üblichen ländlichen Straßenbild im amerikanischen Nordosten, wo die Aufdrucke sonst anderen Helden huldigen: „We are proud of our troops“. Damit können sie in Franconia, einer alternativ geprägten Ecke der amerikanischen Provinz, nicht viel anfangen.

   Die Millers, sagt Steve, dessen Familie seit fünfzig Jahren den Laden im Ort betreibt, die Millers leben immer noch draußen in Tamarack, betreiben dort ein Tenniscamp, und Bode hat auf der anderen Seite des Ortes eine Farm gekauft, auf der biologische Landwirtschaft betrieben wird. Der Erlös fließt seiner Turtle Ridge Foundation zu, einer Stiftung, die sich um das Wohl von Kindern kümmert. „Bode tut viel für das Gemeinwesen“, sagt Steve – und dass dies wie eine Feststellung klingt und nicht wie ein Lob, liegt daran, dass in dieser Gegend niemand auf die Idee käme, Aufhebens um einen Wert wie Solidarität zu machen, der hier zur Grundausstattung gehört.

Das war schon immer so. Wenn hier ein Haus abbrennt, dann tragen die Leute Geld und Arbeitskraft zusammen und bauen es wieder auf, wenn einer einen Unfall hat und keine Krankenversicherung, dann findet sich einer, der die Kosten übernimmt, und als Bode Miller 1998 bei den Olympischen Spielen in Nagano startete, sammelte die Dorfgemeinschaft Geld, damit seine Familie nach Japan fliegen konnte. „Wir kümmern uns umeinander“, sagt Bode Miller. Sein Vater ist Obdachlosen-Anwalt im Bezirk; wer vorübergehend seine Bleibe verliert, hat bei den Millers draußen in Tamarack noch immer eine Unterkunft gefunden.

   Mit 14 kam Bode Miller in die Skiklasse einer Vorbereitungsschule für das College, für die Finanzierung sorgten wiederum Freunde der Familie. Er war ein brillanter Sportler. Skifahren, Tennis, Basketball, Snowboarden, Fußball, Skateboarden – überall gehörte er zu den Besten. Beim Skifahren mäkelten die Trainer zwar an seiner Technik – zu viel Rücklage, zu viel Gehampel –, doch wenn er ins Ziel kam, zählte er immer zu den Schnellsten. Er fahre Ski „wie eine Katze, die man über eine Eisbahn schleudert“, urteilte ein Trainer, und so fährt Miller heute noch. „Als ich mit diesem Stil zum ersten Mal in Österreich fuhr“, sagt Miller, „haben sich manche ältere Menschen bekreuzigt, wenn ich nach dem Lauf an ihnen vorbeiging.“


Die Funktionäre hatten es nicht leicht mit ihm und er es nicht mit ihnen. Der Junge aus Franconia hatte zwei Leidenschaften: Er wollte Spaß haben, denn darum gehe es im Leben, um Spaß und Glück, das hätten ihm seine Eltern gelehrt, und er wollte schnell sein. Er wollte nicht schön fahren, sondern schnell. „Es ist besser, zu stürzen und den Rest zu Fuß zu gehen, als mangels Phantasie und Mut Zehnter zu werden“, sagt er. „Du hast im Rennen immer nur eine Minute oder zwei, und die musst du zum Leuchten bringen. Kontrollierte Läufer bändigen den Berg, schnelle Läufer geben ihm die Sporen.“

   Es gab Zeiten, da hat es Miller in sieben von zehn Rennen nicht ins Ziel geschafft, aber die restlichen drei hat er gewonnen. Wäre er Österreicher gewesen, sagt er mit einem Augenzwinkern, hätten sie ihn damals nicht nur aus dem Kader geworfen, sondern ihm auch die Staatsbürgerschaft aberkannt. Was ihn im amerikanischen Team rettete, waren die Carving-Ski. Er fuhr sie als Erster, sie waren wie geschaffen für seinen Stil, mit ihnen katapultierte er sich in die Weltspitze. 2001 feierte er seine ersten Weltcupsiege im Slalom und im Riesenslalom, heute ist er der einzige Läufer in der Geschichte des Weltcups, der in allen fünf Disziplinen mindestens fünfmal gewonnen hat, außerdem hat er WM-Titel in vier Disziplinen, nur der im Slalom fehlt ihm noch. Bei Olympia liest sich seine Ausbeute mit zwei Silbermedaillen relativ bescheiden, doch als Sieger des Gesamt-Weltcups hat er 2005 und 2008 bewiesen, dass er der kompletteste Skifahrer ist.

   Seinen Freiheitskampf hat Miller nie aufgegeben. „In jeder seiner Entscheidungen liegt großes Selbstvertrauen“, sagt sein früherer Trainer und Onkel Mike Kenney: „Er kann Konventionen brechen, weil es ihm egal ist, was die Leute über ihn denken. Er ist ein Freigeist.“

   Miller trainiert mit eiserner Disziplin und ist gewohnt, hart zu arbeiten, er ist aber auch passionierter Biertrinker und Partygänger. Nachdem er 2006 während der Olympischen Spiele in Turin in der Kritik stand, weil man ihm vorwarf, durch einen allzu lockeren Lebenswandel seine Medaillenchancen verspielt zu haben, erklärte er in einem launigen Interview, dass es eben schwer sei, bisweilen nicht nur wie eine Katze auf der Piste unterwegs zu sein, sondern auch mit einem Kater. Große Entrüstung allenthalben. Der amerikanische Verband kündigte als Konsequenz für 2007 die Einführung einer Sperrstunde und eine umfassende Kontrolle der Athleten durch die Trainer an. Kontrolle statt Freiheit? Sperrstunde für Miller?

   Es gibt wenig, was in seinem libertären Weltbild absurder wirkt – und folgerichtig verabschiedete sich Miller von einem Verband, an dessen Strukturen er sich elf Jahre gerieben hatte. Er gründete das „Bode Team America“ und reiste mit eigenem Trainer- und Betreuerstab im eigenen Wohnmobil von Rennen zu Rennen, demonstrativ ohne Alkohol – und mit durchschlagendem Erfolg, wie der Sieg im Gesamt-Weltcup 2008 beweist. Bei allen Siegen war dies sein größter Triumph. Er hatte die Hüter der Konventionen widerlegt – „die Leute, für die immer alles gleich bleibt außer dem Datum“.

Oktober 2008 

Veröffentlicht in Portraits

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